In den Märchen oder in den Erzählungen fordert die Rätselprinzessin jeden Freier auf, Rätsel zu lösen oder zu stellen. Man kann zwei verschiedene Typen der Rätselprinzessin unterscheiden:
Typ II hat viele Varianten in allen europäischen Ländern. Auch bei Grimm, Afanasiev und Espinosa kann man die Rätselprinzessin finden. Typ I hat nicht so viele Varianten, stammt aber aus dem alten Persien und hat eine lange Überlieferungsgeschichte. In diesem Aufsatz möchte ich den Zusammenhang zwischen persischen Erzählungen, in denen eine Rätsel aufgebende Prinzessin vorkommt und europäischen Märchen mit einer Rätsel lösenden Prinzessin untersuchen.
"Das Rätsel" (KHM22: 1819) von Grimm ist ein bekanntes Beispiel für den Typ II und hat etwa folgenden Inhalt: Ein Kaufmannssohn gibt der Prinzessin ein Rätsel auf über etwas, das er auf einer Reise in die Stadt erlebt hat. "Auf einen Schlag eins, auf zwei Schlag drei, auf drei Schlag zwölf: wie ist das zu lösen?" Die Lösung ist, dass ein Pferd durch den für ihn bestimmten, vergifteten Wein starb und dann drei Raben von dem vergifteten Pferd fraßen und tot umfielen. Dann starben zwölf Räuber von einem Diener vergiftet, indem er das Fleisch der Raben in drei Brote hinein hatte backen lassen, die er den Räubern gab. Die Prinzessin kann das Rätsel nicht lösen und besucht den Freier in der Nacht, um die Lösung zu erfahren. Am nächsten Morgen weis sie die Lösung des Rätsels, aber ihre List wird entdeckt und sie muss den Kaufmannssohn heiraten.
Pétis de la Croix veröffentlichte 1710-12 "Les Mille et un jours" und führte in dieser Sammlung die persische Erzählung mit einer Rätsel stellenden Prinzessin, "Die Geschichte des Prinzen Kalaf und der Prinzessin von China", zum ersten Mal in Europa ein. Die Prinzessin heißt Tourandocte (Tochter aus Turan=Turkestan). Die Erzählung hat Gozzi als "Turandot" dramatisiert und Puccini hat daraus eine Oper komponiert. Aber die älteste Fassung einer Geschichte mit einer Rätselprinzessin in Persien ist "Haft Paikar", die 1197 von Nisami geschrieben wurde. Um 1228 hat Mohammand 'Aufi in seiner Sammlung diese Geschichte in ausgearbeiteter Fassung überliefert. Aus diesen persischen Erzählungen kann man die folgenden Grundmotive herausfinden: A. Erlebnis des Freiers, B. Rätselszene (B1: Rätsel der Prinzessin, B2: Gegenrätsel des Freiers), C. Nachtbesuch der Prinzessin im Zimmer des Freiers, um die Lösung zu finden, D. Hochzeit. Die persischen Erzählungen beinhalten die Motive A, B1, B2, C, D. Die europäischen Märchen haben nur die Motive A, B2, C, D. Das wichtigste Motiv der europäischen Märchen ist das Gegenrätsel des Freiers, dessen Inhalt auf einem eigenen Erlebnis beruht. Als Erlebnis bevorzugen die persischen Erzählungen den Uriasbrief (Brief, der dem Überbringer den Tod bringt). In Europa ist das Gift im Wein oder Kuchen am populärsten, das dem Freier von seinen Eltern gegeben wird. Das Gift kann man als eine Variation des Uriasbriefes betrachten. Die europäischen Märchen sind wahrscheinlich auf diese Weise aus den persischen Erzählungen abgeleitet.